Expulsion - Vertriebenen

Kriegs- und Nachkriegserinnerungen

Von Carl W. Gaede

Ich bin im Dezember 1936 in Kaiserslautern in der Pfalz in Deutschland geboren. Mein Vater war Offizier in der Infanterie des deutschen Heeres.

Mutter und Carl

Mutter und  Carl

Am 7. Januar 1944 von 2:47 bis 3:25 Uhr nachts und noch einmal um 11:45 Uhr am folgenden Morgen wurde das westliche Wohnviertel von Kaiserslautern wie ein Teppich bombardiert und zertrümmert. Meine Mutter und ich wollten dem Grausen dieser Zerstörung entgehen, indem wir versuchten, Familienfreunde in der Nähe Bad Kreuznachs im Hunsrückgebirge zu erreichen. Zu Fuß fanden wir den Weg durch die Ruinen und die noch glühenden Trümmer und erreichten den Hauptbahnhof westlich der Stadtmitte. Unterwegs beobachtete ich, wie Rettungsarbeiter Menschen, von denen einige noch lebten aber die meisten tot waren, aus  den   Ruinen ihrer Haüser an die freie Luft, die von den verwesenden Leichen stank, schleppten.

Als der Krieg im September 1939 ausbrach, war mein Vater zunächst an der Westfront.   Später wurde er an die russische Front gesandt. Meine Mutter und ich wohnten in einem dreistöckigen Wohn-Neubau etwa 500 Meter von einer großen Militäranlage (23. Infanteriekaserne) entfernt.

Carl Gaede Familie Flucht und Kriegsbilder

  • Schulanfang 1943
  • Amerikanische B17 Bomber
  • Luftkrieg
  • Der Hafen zu Pillau
  • Der Kreuzer “Emden”

Irgendwie gelang es uns, einen Zug zu finden, der uns nach Bad Kreuznach nehmen würde, wo die Freunde meiner Familie lebten. Unser Zug fuhr ziemlich schnell, als plötzlich zwei Kampfflieger, die rot/weiß und blaue kreisförmige Kennzei-chen auf ihrem Rumpf und Flügeln (Engländer) trugen, erschienen. Zuerst schossen diese Kampfflugzeuge die Lokomotive unseres Zuges an, der nur einige hundert Meter vor dem Eingang einesTunnels war, welcher uns Sicherheit geboten hätte.  Nachdem der Zug angehalten hatte, schossen die Kampfflieger Bordwaffensalvos in die Passagierabteile des Zuges, die voller Zivilisten – zumeist Frauen und Kinder – waren. Meine Mutter und ich hatten Glück, uns hinter den großen Stahlrädern des Zugwaggons zum Schutz verstecken zu können. So wurde unser Leben verschont.

Am 23. April 1944 kam ein weiterer massiver Luftangriff auf Kaiserslautern. An diesem Tag heulten die Sirenen achtmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Dieses Mal wurden Brandbomben auf unser Wohnhaus geworfen, aber glücklicherweise beschädigten sie nur die Dachziegel, weil das Gebäude so solide wie ein modernes vielstöckiges Bürogebäude mit Beton-Fußböden konstruiert war, die jede Etage trennten. Einige der Brandbomben, die ungefähr ein Meter lang und 15-20 Zentimeter im Durchmesser waren und ähnlich wie ein gewöhnlicher Feuerlöscher aussahen, waren im Gras des Vorgartens gelandet und steckten halbwegs aus dem Rasen heraus. Einige LKW-Fahrer vom Ort öffneten die Enden dieser Bomben und gossen das Benzin in die Tanks ihrer Fahrzeuge.  Ich erinnere mich auch an einen riesigen Tank, der so groß wie ein Eßtisch war und unten vor unserem Haus landete. Dieser Tank war aufgebrochen und eine sickernde, sprudelnde, gelbe Phosphor-Flüssigkeit war sichtbar geworden.

Am 28. September 1944 um unge-fähr  zwei Uhr morgens heulte ein   weiterer Alarm. Wie üblich gingen wir in unseren Luftschutzkeller. Kurz nachdem wir dort angekommen waren, konnte ich die Explosionen einiger neuer, stärkerer Bomben hören (diese waren Sprengbomben, welche kurz bevor sie auf den Boden schlagen, explodieren,). Die Stahltüren und Rahmen des Bunkers rüttelten heftig bis unten in das Fundament des Gebäudes. Als sich all der Staub von dieser enormen Lufterschütterung gelegt hatte, lagen mehrere öltere Leute und kleine Kinder tot am Boden, und Blut tropfte von ihren Mündern, Nasen und Ohren.

Nach einem weiteren Luftangriff liegen die Leichen auf der Straße

Nach diesem Angriff fuhren wir mit der Reichsbahn zu meinen Großeltern nach Königsberg in Ostpreußen. Dieses war ein Gebiet, das verhöltnismäßig wenig von feindlichen allierten Luftangriffen betroffen war, obwohl das Stadtzentrum Königsbergs im August 1944 durch das englische Bomberkommando zerstört worden war.

Landkarte, welche die ostdeutschen Provinzen  Pommern, Westpreußen, Ostpreußen (die Länder, die jetzt von Polen und Rußland besetzt sind) und Memelland, und auch die Ostsee, die von Schweden begrenzt ist, zeigt. S. auch die Ostsee-Seerouten.

Im  Herbst 1944, nach dem Zusammenbruch der deutschen  Abwehr-front im Mittelabschnitt der Ostfront, setzten sich Treks der Bauern  vor den bekanntgewordenen Grausamkeiten der russischen Soldaten  in panischer Angst  in  Bewegung,.  Sie wurden jedoch  schon im Inneren von Ostpreußen durch Befehl des  NS-Gauleiters Koch gestoppt.

Während des Herbsts und frühen Winters 1944 war es verhöltnismäßig ruhig. Uns wurde über das Radio mitgeteilt, daß die russische Front  weit entfernt innerhalb Rußlands gelegen sei. Im Januar 1945 gebahr meine Mutter meinen Bruder Reinhard in einem Krankenhaus in Cranz an der  Ostsee. Ende Januar fuhren meine Großmutter und ich mit der Bahn dorthin, um meine Mutter und meinen nagelneuen Bruder zu besuchen.   Als wir das Haus meiner Großmutter verließen, hörten wir Maschinengewehrfeuer, aber da in der Nähe eine Militäranlage war, machten wir uns keine Sorgen. Ich glaube, es war ein Sonntag als meine Großmutter und ich zur Bahnstation gingen, um von Cranz nach Königsberg zurückzufahren. Das Eisen-bahnpersonal sagte uns, daß keine Züge mehr führen, wir sollten in Richtung Osten schauen und daß der rote Himmel, den wir sahen, das Spiegelbild vom brennenden Königsberg sei.

Wir gingen zum Krankenhaus meiner Mutter zurück. Das Krankenhaus erhielt Nachricht, daß die Russen vorrückten und machte Evakuationspläne. Es existierte aber nur ein kleiner LKW, der nur wenig größer als ein kleiner Lieferwagen war. Er hatte eine Abdeckung aus Segeltuch und einen kleinen Ofen auf der Ladefläche. Als sich die Nachricht von der sowjetischen Invasion unter den Patienten verbreitete, wollte jeder selbstverständlich auf diesem kleinen LKW sein. Glücklicherweise waren alle meine Familienmitglieder unter den Passagieren. Es war meine Aufgabe, den Holzofen zu feuern, um die Patienten vom Erfrieren zu bewahren. Die Temperatur betrug um -20 Grad Celsius, und es war einer der költesten Winter, den es je in Ostpreußen gegeben hatte. Als unser LKW an den endlosen Treks von Pferden und Wagen auf der Straße entlang fuhr, beobachtete ich viele tote Menschen und Pferde, die am Straßenrand lagen. Wir kamen zu einem Platz, wo ein russischer Panzer gerade über einige Pferde und Wagen, in denen Menschen zusammen-hockten, gerollt war. Wir überschritten mehrmals die Frontlinie, und einige Male sahen wir Russen und ein anderes Mal auch zerstreut deutsche Infanteriesoldaten. Die Straße war mit Schnee bedeckt und glatt. Die Treks der Pferde und Wagen bewegten sich langsam auf der rechten Straßenseite.

Das wahre Gesicht der Roten Armee

Am 16. Oktober 1944 stoßen sowjetische Panzerspitzen bis nach Nemmersdorf (Kr. Gumbinnen) vor. Als die Wehrmacht das Gebiet wenig später zurückerobert, bietet sich den deutschen Soldaten ein Bild des Grauens.  Die von den Rotarmisten überraschte Zivilbe-völkerung ist nicht nur getötet, sondern zu Tode gequölt worden. Das deutsche Reich lädt eine internationale Untersuchungs-kommission, bestehend aus Ärzten und unabhängigen Journalisten, nach Nemmersdorf, die die Grau-en der Roten Armee objektiv bestätigen und dokumentieren.

Unser LKW blieb zumeist auf der linken Seite,  aber  einmal schleuderte er irgendwie aus der Fahrbahn heraus und schlug einen Wagen an, der sich überschlug und im Graben landete.  Mehrmals blieben wir in einer Schneewehe stecken, aber   schließlich erreichten wir unser Ziel, Pillau, ein Seehafen an der Östlichen Ostsee.  Die ganze Stadt war schon mit Flüchtlingen voll-gepackt, die versuchten, auf ein Schiff zu gelangen, das sie in den Westen bringen würde.

Der Hafen zu Pillau

Der Kreuzer “Emden”

Wir hatten gehört, daß das ehemalige KDF Schiff “Wilhelm Gustloff” mit ungefähr 9000 Flüchtlingen durch ein sowjetisches U-Boot versenkt wurde, was natürlich große Angst under den Flüchtlingen verbreitete. Meine Großmutter und Mutter nahmen eben das Risiko und wir kamen an Bord des Kreuzers “Emden”, der uns nach Gotenhafen/Gdingen nahm, wo meine Mutter mit Trombose in ein Krankenhaus eingewiesen wurde.  Auf der “Emden”- das erinnere ich mich heute noch sehr gut –  gab es eine vorzügliche Milchsuppe mit Nudeln. Nach einigen Tagen wurden wir auf ein Lazarettschiff verlegt und fuhren zur Ostseeinsel Rügen. Unterwegs begegneten wir einem wunderschönen deutschen Kriegsschiff mit der großen Hakenkreuzflagge am Heck.

Lazarettschiff nach Rügen

Nicht lange nachdem wir in Altenkirchen/Rügen ankamen, holte uns die sowjetische Armee ein. Sie durchsuchten alle Haüser in unserem Dorf nach deutschen Männern und Waffen. Einige Männer wurden zusammengetrieben,die Hauptstraße entlang zur Schau marschiert und aus der Stadt getrieben. Ich weiß nicht, was mit diesen Männern geschah. Ihre Gewehre wurden in der Stadt auf einen Haufen getan und verbrannt. Nach den sowjetischen Soldaten kamen andere asiatische Russen mit ihren Pferden und Wagen, und diese durchsuchten die Haüser wieder nach allem, das irgendeinen Wert hatte und das sie dann auf ihre Wagen luden. Oft kamen Russen zu unserem Wohnquartier und dann schickte mich meine Mutter zum Spielen mit den Nachbarskindern in die Scheune hinterm Haus. Nur als ich erwachsen war, konnte ich mir vorstellen, was mit meiner Mutter geschah.

Die Regale in den Lebensmittel-geschäften waren leer und ich staune immer noch darüber, wie es möglich ist, daß ich noch am Leben bin. Einmal wurde eins der Pferde auf der Straße geschlachtet. Das war das einzige Fleisch, das wir in langer Zeit zu essen hatten. Mein Baby-Bruder lebte nur sechs Wochen und dann starb er am Verhungern. Er wurde in eine Papiertüte gelegt; es gab keine Särge, nicht einmal eine Decke. Dann wurde er inmitten von vielen frischen Gräbern begraben.

Einige Monate nach der Kapitulation Deutschlands begann der Schulunterricht wieder, aber wir wurden dann gezwungen, die russische Sprache zu lernen. Bis heute erinnere ich mich noch an eine Anzahl von russischen Wörtern. Mein Vater, der an der russischen Front war, hatte sich nach dem Waffenstillstand zu Verwandten nach Duisburg im Westen durchgeschlagen und im Herbst 1946 kam er, um uns aus der sowjetischen Zone zu holen. In einem leeren Kohlenzug, der aus Rußland kam und in Richtung Ruhrgebiet fuhr, versteckten wir uns bei Dunkelheit. Am Magdeburger Bahnhof wurde der Zug nach Flüchtlingen durchsucht, die versuchten, in den Westen zu fliehen. Obwohl ein Dutzend Menschen in unserem Waggon waren, entgingen wir Gott sei Dank den Russen. Viele andere Menschen hatten kein solches Glück und wurden mit Gewalt entfernt.

Sobald wir im Westen, dem Gelobten Land zu jener Zeit, ankamen, fanden wir heraus, daß der Lebensmittelvorrat dort sogar noch schlimmer als in der russischen Zone war und unterhalb der Verhungernsgrenze lag. Ich erinnere mich, daß das einzige vorhandene Brot so gelb wie ein Eidotter war. Es wurde aus amerikanischem Viehmais gebacken. Seit ich nach Amerika kam, habe ich festgestellt, warum sie uns mit diesem Mais fütterten. Der Grund war, daß die sieghaften Allierten die Deutschen als Schweine betrachteten, und Schweine verdienen nur gelben Mais. Sehr selten hatten wir Kartoffeln zu Essen, aber absolut keine Butter, Margarine oder Öl waren zu bekommen. Meine erfinderische Mutter benutzte Ersatzkaffee, der wirklich gebratener Roggen oder Weizen war, in der Bratpfanne, um unsere Bratkartoffeln braun zu machen.

Blick auf das Rathaus und die Kirche  in Boos

Wir wohnten in Boos in der Nähe von Bad Kreuznach in der französischen Zone in einem ziemlich bequemen Holzhaus, das früher von russischen Kriegsgefangenen bewohnt war. Im Frühjahr 1946, ging nahebei der Fluß Nahe über seine Ufer und überschwemmte unser Haus ganz schnell. So mußten wir wieder fliehen. Im Januar 1947, im Alter von 32 Jahren, starb meine Mutter vom Verhungern und an Tuberkulose. Im folgenden Jahr starb meine Großmutter auch vom Hunger. Während der folgenden Jahre wurde ich von meiner Tante in Kappeln an der Schlei in Schleswig-Holstein aufgezogen. Dort erhielten wir gespendete Kleidung aus Amerika. Aber um diese Sachen zu erhalten, mußten wir uns zuerst Filme über angebliche deutsche Grausamkeiten ansehen.  Ende 1947 heiratete mein Vater wieder und er holte mich zu sich nach Duisburg-Ehingen.

Dies sind die Erinnerungen meiner Kindheitserlebnisse während und nach dem zweiten Weltkrieg.

Mit freundlichen Grüßen,

Carl W. Gaede
2701 Pointe Tremble Rd.
Algonac, MI 48001
Tel: 810-794-2304
e-mail: rex36@sbcglobal.net

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