Expulsion - Vertriebenen,  WW2

Meine Flucht aus dem Memelland

Dieser Eintrag stammt von Jasmin Holtzendorff (*1991)
Ergebnisse eine Interviews mit Gertrud Radziwill (*1919)
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Ich wurde 1919 im Memelland als Deutsche geboren. Das Memelland liegt in Ostpreußen an der Grenze zu Litauen. Eigentlich war das Memelland immer Deutsch.1918 kamen die Franzosen bis 1923. Danach kamen die Litauer. 1939 wurden wir dann wieder Deutsch. Wir haben immer in Ruhe und Frieden mit den Litauern gelebt. Viele Behörden wie z. B. Zoll, Post, Polizei wurden von Litauern vertreten. Die Bahn war dagegen Deutsch.

Da wir nur 10 km von der russischen Grenze entfernt waren, durften wir nicht mehr in den Wald um Blaubeeren und Pilze zu sammeln. Im Wald zogen sich die deutschen Truppen zusammen. Zu Kriegsbeginn marschierten die deutschen Truppen ohne Gegenwehr 50 km in Litauen ein. Außerdem kamen am Tage die russischen Bomber und warfen Flugblätter ab. Der Text lautete: „Ob ihr weint oder lacht, wir kommen jede zweite Nacht!“ und die Bomber kamen jede zweite Nacht. Es kamen immer mehr Bomber, die das Memelland bombardierten. Im August 1944 waren die russischen Truppen nur noch 20 km entfernt.

Meine Flucht vor den russischen Truppen
Morgens um 5 Uhr wurden wir vom Gauleiter (Ortsvorsteher, Vertreter Hitlers in den Dörfern) geweckt und mussten unser Haus verlassen. Ich hatte ein 13 Tage altes Baby. Mit Babywagen, Rucksack und Koffer musste ich zu Fuß über die zugefrorene Memel. Zum Glück war ich nicht ganz alleine, sondern meine Mutter und mein Patenonkel waren dabei. Mein Patenonkel sprach russisch. Wir wurden bei einem Bauern untergebracht, dort bekamen wir Essen und Trinken. Die deutschen Truppen stoppten den Einmarsch der Russen und wir konnten nach einigen Wochen erstmal wieder zurück in unsere Häuser. Wir blieben von Ende August bis September in unserem Haus.

Ich hatte eine Tante bei Berlin, die schrieb immer wieder, dass wir doch zu ihr kommen sollten. Ende September fuhren wir dann nach Berlin in die Mark Brandenburg. Im Februar 1945 waren die Russen da. Ich ging mit meiner Freundin in die nahe Stadt zum Einkaufen. Auf dem Hinweg stand auf einer kleinen Brücke ein deutscher Soldat auf Posten. Auf dem Rückweg war er weg. Wir sahen dann, einen deutschen und einen russischen Soldaten zusammen weggehen. Wer hatte jetzt wen gefangen?

Die Russen wollten auf dem direkten Weg nach Berlin, sie kamen über Küstrin. Küstrin liegt ca. 30 km von Berlin entfernt. Im Haus meiner Tante war für uns leider kein Platz mehr. Die Flüchtlinge wurden in einer Schule untergebracht. Die Schule hatte einen versteckten Dachboden. Auf diesen Boden versteckte ich mich mit zwei Freundinnen. Da ich aber alle 3 Stunden mein Baby stillen musste, musste ich mich immer vom Boden schleichen, um es aus der Obhut von Freunden zu holen. In der Schule wurden die Frauen und Mädchen reihenweise von den russischen Soldaten vergewaltigt. Auf dem Boden lagen viele Wertsachen, die von Berlinern dort in Sicherheit gebracht wurden. Irgendwann fanden die Russen diesen Boden und auch die Wertsachen. Damit war aber auch unser Versteck aufgeflogen. Die Russen kamen über die Treppen nach oben. Wir krochen durch eine kleine Spalte am anderen Ende des Bodens nach unten. Danach waren wir wieder bei meiner Tante. Aber auch dahin kamen die russischen Soldaten. Meine Tante und meine Mutter kochten den russischen Soldaten Essen. Wir mussten wieder 3 km zurückgehen in eine andere Schule, da in Küstrin die Posten gewechselt hatten. Einmal sah ich einen deutschen Soldaten auf einem Feld davonlaufen. Er wurde von Russen erschossen und nach ein paar Tagen im Schulgarten begraben. Wir jungen Frauen und Mädchen zogen uns „alte“ Kleidung an, um keine Aufmerksamkeit bei den Russen zu erwecken.

Ein Junge, der russisch sprach, erzählte den Russen, dass in der Schule nur alte Leute wohnen würden. Dann sind sie weiter gezogen. Dann mussten wir wieder weiter ziehen. An der Warte (Nebenfluss der Memel) waren wieder sehr viele Russen. Meine Mutter und mein Patenonkel wohnten in einer Scheune bis zum 3. März. Die Angst vor den Russen war sehr groß. Mein Glück war, dass die Russen kinderlieb waren. Wenn die Russen, kamen zwickte ich mein Baby, damit es schrie und die Russen mich in Ruhe ließen. Eine andere Frau hatte ein Baby mit Ausschlag. Als die Russen dieses sahen, suchten sie sich eine andere Frau, die dann vergewaltigt wurde. Am 3 .März mussten wir wieder zurückgehen. Abends sind wir in ein leeres Haus gegangen. Dort war es sehr kalt, aber wir durften nicht heizen, da uns sonst die Russen fanden. Am nächsten Morgen fanden sie uns dann doch. Sie zerstörten den größten Teil unserer Sachen und den Rest nahmen sie mit. Danach gingen wir weiter nach Stargard. Im Juni sind wir wieder zurück nach Berlin gegangen, wo sich Polen befanden. Diese haben uns erlaubt die Kühe zu melken. Wir machten uns Sahne, Käse und Butter. In einer Scheune gab es Getreide und eine Schrotmaschine, dadurch konnten wir uns Brot backen. So ernährten wir uns. Erst wurde ein Dorf, dann zwei Dörfer von den Polen geräumt. Auch unser Dorf wurde aufgrund der sich nähernden Russen geräumt. Wir packten uns Nahrung ein und mussten über die Oder flüchten. Wir mussten einen ganzen Tag wandern, bevor wir an der Oder waren. In Weidensträuchern lagen sehr viele Tote. Die Oder überquerten wir über eine Notbrücke. In Küstrin war alles zerstört.

Auf dem Marktplatz wurden Schweine geschlachtet. Sie wurden aufgeteilt und einen kleinen Rest durften wir uns nehmen, um diesen zu verzehren. In Küstrin waren Deutsche gefangen. Wir guckten ob Bekannte von uns dabei waren. Es war keiner von ihnen darunter.

Wir gingen einen Monat nach Berlin. Dort hatte unsere Tante ein Haus. Aber wir bekamen keine Lebensmittelkarten, da wir keine Berliner waren. Und deshalb mussten wir weiterziehen. Wir wollten mit einem Zug fahren, doch es fuhr keiner, da Stalin gerade Berlin besuchte. Wir gingen zum Güterbahnhof zurück und fuhren mit einem Zug nach Hagenow Land. Dort gab es wieder viele Russen. Danach lebten wir in einem Schuppen einer Baumschule. Mein Baby war gerade ein 1 Jahr alt geworden. Jetzt bekamen wir Lebensmittelkarten, hatten aber immer noch keine Wohnung. Deswegen zogen wir in ein Massenquartier in einem Saal um. Doch dort gefiel uns es nicht und wir gingen wieder zurück in den Schuppen. Am 08.08.1945 begaben wir uns nach Boizenburg. Bauern haben uns mit Pferd und Wagen abgeholt und auf verschiedene Flüchtlingsquartiere verteilt. Meine Mutter und mein Patenonkel waren auf einen anderen Wagen als ich mit meinem Kind. Außer meinem Kind, hatte ich nichts bei mir. Eine andere junge Frau mit einem 2- jährigem Kind bot mir an, mit unter ihre Decke zu kommen. Doch meine Mutter und mein Patenonkel hatten mich gesucht und auch gefunden. Sie boten mir eine andere Schlafmöglichkeit. Ein großes Glück für mich, denn am nächsten Tag waren die junge Frau und ihr Kind tot. Sie hatten Typhus. Wir gingen weiter Richtung Elbe in ein Dorf. Dort bekam ich eine kleine Kammer von einem Bauern. Mein 2 Jahre altes Kind hatte die englische Krankheit (Rachitis). Bei dem Bauern erging es uns es sehr gut.

Im Juli 1944 wurde mein Mann gefangen genommen und wurde im Juli 1946 wieder entlassen. Eines Abends stand er vor mir und erzählte, dass er auf großen Umwegen zu mir gelangt war.

Unsere Flucht über die Grenze in den Westen
Mein Mann fand keine Arbeit und der Bürgermeister musste alle Männer, die keine Arbeit hatten, auf die Werft in Warnemünde lassen. Ich meldete meinen Mann bei dem Bürgermeister aber ab, weil ein Bekannter mir abriet meinen Mann zu dieser schweren Arbeit zu schicken. Man war der Meinung, er würde diese wahrscheinlich nicht überleben. Wir hörten, dass ein Mann aus Hamburg Menschen über die russische Zonengrenze führte. Es kostete aber 50 Mark pro Person. Leider hatte ich kein Geld. Ich bekam es aber von meiner Mutter. Den Bauern haben wir eingeweiht, dass wir über die Grenze gehen würden. Er gab uns Nahrung mit auf den Weg. Leider konnten wir unser Kind nicht mitnehmen. Es blieb bei meiner Mutter. Der Bauer brachte uns bis zum Bahnhof. Dort waren wir 8 Leute die „rüber“ wollten. Wir stiegen in den Zug ein.

Auf einmal hielt der Zug an und das Licht ging aus. Wir stiegen schnell auf der anderen Seite des Zuges aus und liefen zu einem Schuppen. Dort sammelten wir uns wieder. Dann gingen wir zu Fuß weiter bis zur Grenze. An der Grenze gingen die Russen immer hin und her. Als sie auseinander gingen, liefen wir über die Grenze. Wir gingen bis zur ersten Gaststätte und wollten etwas essen und trinken, jedoch hielt plötzlich ein Jeep vor dem Gasthof. Es waren die Engländer. Wir kamen daraufhin in ein Lager und bekamen Essen und Trinken. Einige Zeit später fuhren wir nach Oldesloe und wurden da auf verschiedene Orte verteilt. Unser vorläufig letztes Ziel war Hoisbüttel. Wir erreichten den Ort mit 2 anderen Familien. Das Erste was ich geklaut habe war eine Steckrübe.

Ich holte mein Kind
Im Dezember bin ich wieder schwarz „rüber“ gegangen, um mein Kind zu holen. Ich kam am Sonntag gegen Mittag an und wollte am Dienstag wieder zurück. Dieses Mal wollte ich nicht mit der großen Flüchtlings-Gruppe über die Grenze gehen. Aber ein Mann aus dieser Gruppe erklärte sich bereit, mit mir einen anderen Weg über die Grenze zu gehen. Dieser Weg wäre für mich und mein Kind nicht ganz so gefährlich. Da aber auf der Elbe großer Eisgang war, konnten wir diesen Weg doch nicht nehmen und mussten den alten Weg benutzen. Wir mussten nämlich wieder über die Grenze zurückgehen und dann mit einem Zug nach Lüneburg und von Lüneburg nach Hamburg fahren. Wir gingen 3 Tage und 3 Nächte. In der Zwischenzeit hatte mein Mann in Hamburg eine Arbeit gefunden. Am 19.12 war ich mit meinem Kind wieder zu Hause. Wir schliefen einen ganzen Tag lang. Das war meine Flucht aus dem Memelland.

Die Flucht dauerte gut 2 Jahre (vom 2. August.1944 bis 8. November.1946). Auf der Flucht wurden wir häufig hin und her gejagt. Wir haben manche Strecken 2x gemacht. Immer wie der Truppenverlauf gerade war. Das Schlimmste auf der Flucht war die Angst, von den Russen vergewaltigt zu werden und mein Kind zu verlieren.

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