Expulsion - Vertriebenen,  WW2

Flucht 1945

Onkel Max und Tante Friedel
Dieser Eintrag stammt von Tatjana Littich
Original Source (used under Fair Use Laws)

Ich sehe sie noch davonfahren auf ihrem von einem lahmen Klepper gezogenen, hölzernen Kastenwagen, dem derzeitigen Transportmittel schlechthin. Vorn auf dem querliegenden Brett saß Onkel Max und Tante Friedel, im hinteren Teil des armseligen Gefährtes auf Säcken, in die gebliebene Habseligkeiten verstaut waren, hockte unsere Oma, die mit ihrer öltesten Tochter und deren Mann auf die Flucht ging – 1945 – aus einem kleinen Dorf in Schlesien.

Mit sich nahmen sie die Gewissheit, in absehbarer Zeit zurückzukehren, wenn die Verhöltnisse wieder normal sein würden, und die bange Sorge um die Söhne Kurt und Willi, die als Soldaten im Krieg waren, und besonders um den Jüngsten, den 17-jährigen Fritz, der mit Begeisterung zum Volkssturm an die russische Front gegangen war. Beim Abschied hatte er seiner Mutter die beruhigende Frage gestellt, ob sie denn wirklich glaube, der Hitler ließe die Russen herein? Kurt fiel als erster, Willi und Fritz galten lange als vermisst. Willi hat als Einziger in englischer Gefangenschaft überlebt, hat dann seinen Lebensmittelpunkt im nordischen Schottland gefunden, weil er keine Perspektive sah, nach dem Erlebten und ohne Ausbildung in das zerbombte Deutschland zurückzukehren. Die strenge, autoritäre Erziehung des Vater, unter der er wahrscheinlich immer gelitten hatte, dürfte ihm diesen Entschluss erleichtert haben.

Lange nach Ende des Krieges hat ein Kamerad die Gewissheit gebracht, dass “Fritzel” in Russland an einer Blutvergiftung gestorben war. Der Schmerz, dass das einzige Töchterchen vierjährig an Diphtherie gestorben war, dürfte noch nicht verheilt gewesen sein. Da zogen sie nun weg, mit als Erste im Dorf. In ihren Hof und die Hufschmiede waren schon polnische Flüchtlinge einquartiert, die ihrerseits aus der Heimat vertrieben waren und hier ihre neue Bleibe finden sollten. Onkel Max war Bürgermeister gewesen, er fürchtete die Repressalien nach Kriegsende durch die Russen stärker als andere.

In die Heimat zurückgekehrt ist nur einmal Tante Friedel, Oma war inzwischen zu alt für die Reise, und Onkel Max hatte nicht die Kraft dazu, als “Heimwehtourist” hinzureisen. Die Drei hatte das Schicksal nach Pirna verschlagen. Hier lebten sie in einer wenig komfortablen 2-Kammern-Mansarde etwa 20 Jahre auf engstem Raum und in ärmlichsten Verhöltnissen. Ihr Sohn Willi hat sie dort von England aus nur ein einziges Mal mit seiner Frau und den beiden Enkelkindern besucht. Weg von Schlesien in die Ungewissheit gen Westen Unsere Eltern hatten den Weggang aus unserem Dorf in Schlesien mit 4 Kindern noch so lange wie möglich hinauszögern können. Fast alle Dorfbewohner waren schon polnische Familien, denen zwangsläufig die verlassenen Wohnungen und Höfe unserer ehemaligen Nachbarn zugewiesen worden waren.

An einem heißen Tag im Sommer 1947 bestiegen wir dann schließlich doch Viehwaggons, die mit etwas Stroh auf dem Fußboden ausgestattet waren. Unser Gepäck: so viel man hatte tragen können. Wir fuhren dichtgedrängt mit weiteren Mitreisenden einer ungewissen Zukunft dem Westen entgegen. Irgendwann erreichten wir irgendein Lager – es gab eine dünne Gurkensuppe – in der “russischen Zone”, und Mama verlor zum erstenmal die Fassung über so viel Unglück. Nach einer langen Odyssee und beflügelt von Gerüchten, dass es in den von den westlichen Alliierten besetzten Gebieten bessere Überlebenschancen geben sollte, endete unsere Flucht vorerst in dem kleinen Dorf Böckwitz, unmittelbar an der Zonengrenze, um in irgendeiner Nacht doch noch in den Westen zu gelangen.

Der Weg dorthin führte lediglich durch den Garten des Hauses (später zerschnitt die unsägliche Mauer den Garten in einen West- und einen Ostteil). Hier versuchte die Familie zunächst, zur Ruhe zu kommen. Wir bekamen von einem Bauern ein kleines Zimmerchen, das mit einem Kachelofen und kärglichstem Mobiliar ausgestattet war. Gekocht wurde in dem Feuerloch des Ofens. Das Wichtigste in dieser Situation war, die Familie vor dem Verhungern zu bewahren. Mein Vater erkannte folgende Marktlücke: Die Bauern der Umgebung waren durch Eigenproduktion mit Lebensmitteln gut versorgt und schlachteten wie immer schon ihre Schweine. Das Fleisch wurde in Konservendosen haltbar gemacht, von denen vor jedem erneuten Gebrauch die obere Verschlusskante abgeschnitten werden konnte, so dass die wertvollen Gefäße zwar immer kleiner wurden, doch mehrfach verwendet werden konnten.

Lediglich der Deckel, in den ein Gummi für den luftdichten Verschluss eingefügt war, konnte nur einmal verwendet werden. Diese Deckel aber gab es nur im Westen auf dem Schwarzmarkt in Hamburg. Hier sah Papa seine Möglichkeit. Er machte sich zu Fuß zu einem entfernten Bahnhof auf und dann auf die abenteuerliche Fahrt nach Hamburg, wo die begehrten Deckel zu haben sein sollten. Der Rucksack war das bequemste Transportmittel, und die Bauern gaben ihm gern von dem Geschlachteten für die heißbegehrten Büchsendeckel. – Wir mussten nicht – wie so viele – Hunger leiden.

Die Aufenthalte in Hamburg waren mit Übernachtungen verbunden, weil die Eisenbahnverbindungen und auch die Einkaufsmöglichkeiten nicht mit den heutigen Verhöltnissen zu vergleichen waren. Ein Dach über dem Kopf fanden derart Reisende, von denen es damals viele in Hamburg gab, im Luftschutzbunker des Heiligengeistfeldes. Müde von den Strapazen und der ständigen Gefahr, auf dem Schwarzen Markt von der Polizei erwischt zu werden, fiel Papa in einen tiefen Schlaf, nicht ohne vorher seine Schuhe ausgezogen und seine “dritten” Zähne sorgföltig darin verstaut zu haben. Doch am nächsten Morgen waren die Schuhe weg. Einer, der nicht so fest hatte schlafen können, hatte sie ihm einschließlich des derzeit wertvollen Gebisses gestohlen. Papa lief auf Strumpfsocken durch Hamburg und musste, ebenfalls auf dem Schwarzen Markt, ein paar neue Schuhe finden. Doch vorerst war “zahnlos” angesagt.

Äußerst beliebt waren bei den Bauern auch Salzheringe, eine willkommene Abwechslung zu der eintönigen Kost dieser Zeit. Salzheringe holte Papa aus Bremen. Eine dieser Reisen jedoch entwickelte sich fast zur Katastrophe. Wissend, dass ihn vor dem Bahnhof Polizei abfangen und seine wertvolle Ware beschlagnahmen würde, aß er noch im Bahnhofsgebäude so viele seiner Salzheringe auf wie er nur konnte, um wenigstens einen kleinen Teil sinnvoll zu retten. Vor Durst wäre er fast gestorben – und das nur für die Rettung einiger Salzheringe! Den 7 km langen Fußweg vom Bahnhof nach Böckwitz sind nach einer weiteren “Einkaufsfahrt” Mama und Papa gemeinsam gegangen, schwer bepackt mit je zwei Blecheimern vermeintlich voller Heringe.

Zu Hause angekommen, mussten sie feststellen, dass sie einem Betrüger aufgesessen waren, der die Blecheimer lediglich in der obersten Schicht mit Heringen beladen hatte, ansonsten aber Sand und Steine eingepackt hatte. Nach der Wende sind wir die Strecke mit dem Auto abgefahren. Den entscheidenden Schritt nach dem Westen haben die Eltern wegen der vermeintlichen Aussicht auf bessere Existenzmöglichkeiten nicht getan. Wir blieben in der SBZ, der Sowjetisch Besetzten Zone. Rademin, Dorf meiner Kindheit Im Zuge der Bodenreform wurde unsere kinderreiche Flüchtlingsfamilie an der Aktion “Junkerland in Bauernland” beteiligt. Wir bekamen wie fünf weitere Familien ein Sechstel eines großen Hofes in der Altmark, dessen Besitzer aus Angst vor den russischen Besatzern in den westlichen Teil Deutschlands geflüchtet waren. Sie hatten alles zurückgelassen, Haus und Hof, Nutztiere, Saatgut, Felder, Weiden und Wald. Endlich waren wir wieder irgendwo zu Hause, konnten ein einigermaßen normales Leben führen.

Die Sorge, die Familie durchzubringen, war viel geringer geworden. Wir hatten ein Pferd, 3 Kühe, etwas Federvieh zugeteilt bekommen, und unter unendlichen Mühen haben die Eltern Acker, Wald und Weide bewirtschaftet. Wir Kinder gingen in die Dorfschule, in der es 2 Räume und 2 Lehrer gab. In einem Raum wurden die Klassen 1 bis 4 unterrichtet, in dem anderen Raum die Klassen 5 bis 8. Die Stunden waren aufgeteilt je zur Hölfte Stillbeschäftigung für die Schüler von jeweils 2 Klassen und zur anderen Hölfte aktiver Unterricht. Es ist erstaunlich, dass uns die Lehrer dennoch ein Wissen vermitteln konnten, das als Grundlage für eine bescheidene Berufsausbildung ausreichte. Der nächste Bahnhof, Fleetmark, war 5 km entfernt. Die einzige ständige Verbindung dorthin war der allmorgendliche Milchwagen, der die Milch des Dorfes in die dortige Molkerei beförderte. Das war eine Mitfahrgelegenheit.

Um uns wenigen Kindern katholischen Glaubens Religionsunterricht zu erteilen und uns auf die Kommunion und Firmung vorzubereiten, kam allwöchentlich ein Pfarrer aus der Kreisstadt Salzwedel den ca. 20 km weiten Weg mit dem Motorrad. Eine kleine Wegzehrung nahm er gern an, wenn gerade geschlachtet oder geerntet worden war. Der sonntägliche Gottesdienst fand abwechselnd in den evangelischen Dorfkirchen in Fleetmark und in Klein Gartz statt, wohin der katholische Pfarrer dann kam. Gemeinsam mit drei sehr frommen Familien, die aus dem Sudetenland gekommen waren, gingen wir am Sonntagnachmittag abwechselnd nach Fleetmark oder Klein Gartz zu Fuß. Die Familien aus dem Sudetenland zogen dann jeweils ihre wertvollsten Kleider an, die Trachten, die sie von zu Hause mitgebracht hatten. Rote Strümpfe, weite Röcke und bunte Tücher für Kopf und Schultern.

Diese unbeschwerte Kindheit und das weitgehend naturverbundene Leben dauerte gerade 8 Jahre, bis unser Vater aufgrund der bevorstehenden Kollektivierung der Landwirtschaft und der aussichtslosen Fortbildungsmöglichkeiten für seine Kinder den folgenschweren Entschluss fasste, doch noch “rüberzumachen”, so nannte man damals eine Übersiedlung nach dem Westen. Papa hatte den Schritt gut vorbereitet. Für den Fall, dass wir “erwischt” würden, drohte Zuchthaus. Es war immer schwieriger geworden, das Soll zu erfüllen, d. h. einen vorgegebenen Anteil der erwirtschafteten Erträge aus Landwirtschaft und Viehzucht zwangsweise an den Staat – gegen geringste Bezahlung – abzuführen. In einem evtl. zu erwartenden Verfahren wäre eine Missachtung der Auflage durch Flucht als Sabotage ausgelegt und streng bestraft worden.

Ein ganzes Jahr hat er gebraucht, um alle Vorkehrungen zu treffen, das Vorhaben geheim zu halten. Niemand durfte etwas davon erfahren. Mama brauchte lange Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, noch einmal ganz von vorne anzufangen und alles stehen und liegen zu lassen. Was würde sie im Westen erwarten, sie, die eigentlich bäuerlicher Herkunft waren und nie in einer Stadt gelebt hatten, die keine Ahnung davon hatten, wie man sich in einer Industriegesellschaft zurechtfinden konnte. Sie hatten beide keinen Beruf gelernt, aber den festen Willen, ihren Kindern – ein fünftes war noch dazugekommen – eine nach ihren Vorstellungen sichere und lebenswerte Zukunft zu sichern. Für diese Weitsicht und den Mut für die Umsetzung bin ich meinen Eltern ein Leben lang dankbar.

Ein neues Leben im Westen Oben, an der Mühle, am Dorfeingang, wohin wir querfeldein bei Dunkelheit gegangen waren, erwartete uns ein Auto, dessen Fahrer unser Vorhaben sicher ahnte, aber nur seinen Auftrag erfüllte, uns zum Bahnhof einer weiter abgelegenen Stadt zu bringen, damit das Einsteigen einer Familie in einen Zug nicht etwa auffallen würde. Unterwegs wurde die Fahrtrichtung zu unserem Ziel Berlin nochmals gewechselt, um Auffölligkeiten zu vermeiden. Berlin-Friedrichstraße hieß das Ziel, das wir bei Antritt der Reise aber noch nicht kannten. Die wenigen Schritte in den Westsektor der Stadt gingen wir zu Fuß, um nach einigem Hin und Her in einem Aufnahmelager Berlin-Kreuzberg, Askanierplatz 11, neben dem Anhalter Bahnhof zu landen. Wie entsetzlich diese Großstadt war! Ich hatte dergleichen noch nie gesehen. Berge von Trümmern säumten die Straßen, doch gab es hier Dinge, die wir nie gekannt hatten.

Nie vergesse ich den Eindruck, als ich zum erstenmal im Kaufhaus Herti war! Zu Weihnachten, das wir mit mehreren Familien in einem Zimmer wohnend verlebten, gab es Camembert-Käse. Welche Köstlichkeit! Mama verdiente das erste Westgeld: Sie ging täglich für 8 Stunden Kartoffeln schölen für die Versorgung der Lagerbewohner. Dafür bekam sie pro Stunde 1,– DM und strahlte vor Glückseligkeit. Ganz in der Nähe befand sich die S-Bahn-Station Potsdamer Platz. Oben war Westberlin, unten im Bahnhofsschacht war Ostberlin. Stets in Gefahr. Eine Nacht in Rothenburgsort im Juli 1943 Sie wohnten am Röhrendamm in Rothenburgsort. Vater, Mutter, die Tochter G. und der 4-jährige H.-J. Den Ältesten K., noch minderjährig, konnten die Eltern nicht davor bewahren, sein Leben freiwillig für die Verteidigung von “Führer und Vaterland” einzusetzen.

Der Vater war wegen seiner “kriegswichtigen” Beschäftigung bei Shell vom Frontdienst befreit, und war in jener schicksalhaften Nacht einem Kollegen entgegengekommen, der die Schicht wegen einer bevorstehenden Familienfeier tauschen wollte. Deshalb war er zu Hause bei den Seinen. Die Nacht war warm und schwül, als etwa um Mitternacht die Sirenen zum Fliegeralarm aufheulten. Dies bedeutete für alle Bewohner, schnellstens Schutz in den Kellern zu suchen, während draußen auf den Straßen das Unvorstellbare geschah: die Bombardierung aus der Luft und der anschließende Feuersturm in den Straßen. Als in dem engen, mit Menschen dicht gedrängten Keller die Kerzen zu erlöschen drohten, hatten die Verängstigten nur die Wahl zwischen Erstickungstod oder hinaus ins Freie – in das Inferno von Hitze, Qualm und Feuer.

Dank der Umsicht und Entschlusskraft des Vaters gelangte die Familie hinaus und fand – später nicht mehr nachvollziehbar, welcher Eingebung folgend – den Weg vorbei an Toten und über verkohlte Leiber zum Wasser, wo Schuten lagen, die die dem Feuer Entkommenen aufnahmen. Der Weg in das Schiff führte über ein brüchiges Brett, das als Laufsteg diente. Viele hatten den rettenden Schritt schon getan, doch als die 12-jährige G. das Brett betrat, brach es unter der Last auseinander. Nur der Geistesgegenwart ihres Vaters, der das Kind an der Hand hatte, und die Tochter mit letzter Kraft dem schwarzen Nichts zwischen Kai und Schiffsrumpf entreißen konnte, war die Rettung aus dieser gefahrvollen Situation zu verdanken. Das Schiff brachte alle sicher nach Lauenburg; man hatte fürs erste überlebt. Der kleine H.-J. ist noch lange Jahre hindurch aus dem Schlaf aufgeschreckt mit dem Schrei “Feuer, Feuer!” K. kam noch ein einziges Mal auf Heimaturlaub nach Bergedorf. Nie wieder hat man etwas von ihm gehört. So lange sie lebte, hatte die Mutter auf ihren Sohn gewartet. Sie hatte immer gehofft, er stünde plötzlich in der Tür und wäre wieder zu Hause.

Den Verlust hat sie niemals überwunden. Die Katze der Familie hatte sich während des ganzen Tages vor dieser schrecklichen Nacht unruhig und aufföllig verhalten. So ganz anders als sonst.

ManyRoads Creator, Professional Genealogist, Family Historian, ManyRoads Podcast co-host, Old Guy and most importantly 'opa'