Expulsion - Vertriebenen,  WW2

Die Flucht mit 500 alten und kranken Menschen von Rothenburg an der Neiße

Frau Strack

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Mein Mann, Diakon des Rauhen Hauses in Hamburg, war bei der Wehrmacht. Ich leitete in Breslau ein Altenheim der Inneren Mission für 200 Personen, das, wie auch die Rothenburger-Anstalten, zum Verband schlesischer Altenheime gehörte.

Vor der Flucht aus Breslau hatte ich meine beiden Kinder, sechs und sieben Jahre alt, mit unserer Elfriede, die meine Kinder betreute, bei Freunden in Rothenburg a.d. Neiße in Sicherheit gebracht; denn in Breslau fielen schon die Bomben.

Am 20. Januar 1945 flüchtete ich mit den Alten und Angestellten aus Breslau mit der Absicht, für alle in Rothenburg eine neue Bleibe zu finden. Aber das Fluchtziel konnte man sich zu der Zeit nicht mehr aussuchen. So landeten wir mit unserem Heim in Auerbach im Vogtland. Nachdem ich die Leute einigermaßen untergebracht hatte, galt die Sorge meinen Kindern. Mein gesamtes Gepäck ließ ich in Auerbach; denn ich wollte mit unserer Elfriede und den Kindern zurückkehren. Einige Raucherkarten veranlassten einen Lokomotivführer, mich bis Görlitz mitzunehmen. Von dort aus gelangte ich auf einem Lastwagen glücklich zu meinen Kindern.

Die Rothenburger rüsteten sich auch schon für die Flucht. Der Weg zu meinen Leuten in Auerbach war aber durch das Vorrücken der Russen abgeschnitten.

So traten wir Mitte Februar die Flucht von Rothenburg aus an. Auf einer Waldschneise in der Nähe sah man schon die Russen mit ihren Flakgeschützen, die sie auf unseren Zug richteten. Sie trafen ihr Ziel. Wir hatten gleich zehn Tote und acht Verletzte. Es war schrecklich. Wir alle warfen uns in dem Eisenbahnwagen auf den Boden. Zum Glück konnte der Zug weiterfahren. In Nieski hielt er dann. Die Toten wurden ausgeladen, und die Verletzten kamen ins Krankenhaus. Wir alle standen noch unter dem furchtbaren Schock. Dazu kam die eisige Kälteund die unendlich lange Fahrt. Wir waren mit den Alten, Kranken, Taubstummen und Geistesgestörten etwa fünfhundert Personen.

Auf den Bahnsteigen versuchte ich während der Aufenthalte, für all die Leute eine warme Suppe zu bekommen. Manchmal gingen wir auch leer aus. Die NSV-Mitarbeiter sagten, als sie unsere Leute sahen: “Euch hat man wohl vergessen zu vergasen”.

Täglich starben Menschen in unserem Zug. Etwa fünfzig Personen erfroren während der Fahrt. Auf den Bahnhöfen verständigten wir den Bahnhofsvorsteher, der dann die Toten übernahm.

Zuvor hefteten wir ihnen einen Zettel mit den Personalien und dem Sterbedatum an ihre Kleidung. Unruhe und Herzeleid machte sich bei uns allen bemerkbar. Die Alten und Kranken hatten nur den einen Wunsch, nach Hause zurückzufahren. Sie konnten und wollten wohl auch nicht mehr. Doch es gab kein Zurück, wir mussten weiter. So fuhren wir bei 30 Grad Kälteweiter. Immer mehr verzweifelte Frauen mit ihren weinenden Kindern sind in unseren Zug zugestiegen. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit lagen auf ihren Gesichtern.

Eine weinende Mutter warf den ganzen Inhalt ihres Koffers fort und bettete ihr erfrorenes Kind in den Koffer, um es am Bestimmungsort zu beerdigen.

Wir alle standen vor einer dunklen Zukunft.

Die Fahrt war endlos, doch wir hofften immer auf einen Zufluchtsort. Da kam der Zugführer: “Sie werden in Neuburg v. Wald aussteigen”. Wir alle freuten uns schon, uns endlich einmal richtig hinlegen und ausstrecken zu können. In einer leerstehenden Schule sollten wir unterkommen. Wir waren schon ausgestiegen. Aber als der Bürgermeister erkannte, was auf ihn zukam, schickte er uns weiter. So mussten wir noch bis Landshut fahren, wo wir noch zehn Tage auf dem Bahnhof im Zug warteten, bis eine Bleibe für uns gefunden wurde. Ich hatte beim Landrat vorgesprochen, und darauf kamen wir dann endlich in das Dorf Deutenkofen in einer leerstehenden Brauerei unter.

Bei Antritt der Flucht aus Breslau war ich im achten Monat und erwartete mein drittes Kind.

In Deutenkofen angekommen, sah ich der Geburt meines Kindes entgegen. Ich ging zu einer Hebamme im Dorf und frage, ob sie mich aufnehmen könne. “Ja, gehen Sie mal in die Scheune,” war ihre Antwort. Mir stockte zunächst der Atem, aber dann dachte ich an den Satz aus der Weihnachtsgeschichte: “denn sie hatten keinen Raum in der Herberge”, und ich war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.

Dankbar hielt ich später mein neugeborenes Kind in den Armen und konnte nur noch für all die Arbeit und Verantwortung um Kraft bitten.

Von der Hebamme mit meinem Kind ins Lager zurückgekehrt, hatte ich eine freudige Überraschung: Die Bäuerinnen des Dorfes hatten mir zum Empfang meines Kindes einen Gabentisch voller Lebensmittel geschenkt: Eier, Brot, Butter, Mehl und Geselchtes (Schinken). Diese Hochherzigkeit hat mich sehr dankbar gemacht; denn wir mussten manche Mahlzeiten ausfallen lassen, weil wir nichts zu essen hatten. Ich konnte manche Hilfsbereitschaft erfahren; so schenkte mir eine Bäuerin ihren Kinderwagen, den sie nicht mehr brauchte. Das Kind wuchs in der großen Heimfamilie auf und war der Sonnenschein aller Alten und Kranken.

Die hygienischen Verhöltnisse waren in der alten Brauerei, die schon jahrelang leer stand, sehr schlecht. Wir hatten für die vielen Menschen nur eine Toilette; Tag und Nacht stand eine lange Schlange von Heimbewohnern davor. Eine Wasserpumpe auf dem Hof versorgte uns alle mit Wasser. Als Essgeschirr hatten wir nur Konservendosen. Durch die schlechten hygienischen Verhöltnisse wurden viele Bewohner hautkrank. Außerdem hatten viele Heimbewohner Typhus. Dazu kam noch, dass wir alle sehr verlaust waren. Die Krankenhaüser in Landshut waren überfüllt, die Gänge standen voll mit Betten. Es war dort ein Massensterben. Auch unter unseren Leuten hatten sich die Reihen gelichtet. Auf dem Dorffriedhof durften unsere Verstorbenen nicht beerdigt werden. Wir bekamen ein Stück Ackerland zur Verfügung gestellt, wo unsere Heimbewohner die letzte Ruhe fanden. Wir nannten es Heimat für Heimatlose.

Als unsere ersten Heimbewohner starben, bat ich den katholischen Pfarrer, unsere Entschlafenen zu beerdigen. Der Geistliche lehnte es ab, dazu hätte er keine Genehmigung. Särge gab es damals nicht. Der Dorftischler lieferte uns einen Transportsarg und das Rote Kreuz spendete uns Betttücher. So wickelten wir unsere Toten in die Betttücher und legten sie ins Grab. Am Grab sangen wir mit den Angestellten einige Choröle, und ich betete das Vaterunser.

Nach vielen Bemühungen bekamen wir dann einen Flüchtlingsgeistlichen. Später war auch die katholische Kirche bereit, uns zweimal im Jahr ihr Gotteshaus zur Verfügung zu stellen. Der Kaplan durfte nun auch im Notfall unsere Toten beerdigen.

Für unsere evangelischen Flüchtlinge war es nicht leicht, in dem katholischen Niederbayern Fuß zu fassen. Ich stellte mich bei dem Dorfgeistlichen vor und bat ihn, ob er in seiner Kirche um Spenden für unser Heim bitten könne, denn wir waren alle ziemlich ausgehungert. Der Geistliche sammelte auch, aber die Spenden lieferte er in Landshut ab mit der Begründung, die Stadt leide größere Not. Da griff ich zur Selbsthilfe, nahm Raucherkarten und ging zur Gendarmerie. Ich bat die Herren, uns beschlagnahmte Lebensmittel für die Heimbewohner zu überlassen. Sie akzeptierten den Handel, und wir konnten alle satt werden. Das ging so auch eine ganze Zeit, bis der Landrat davon erfuhr und die Lieferungen stoppte. Aber die Gendarmerie wurde uns nicht ganz untreu.

In der Brauerei lagen die meisten unserer Leute auf Heu oder Stroh. Die Pflegefölle kamen im Gutshaus unter. Das Personal war auf die umliegenden Bauernhöfe verteilt worden. Dadurch hatten wir gute Verbindungen zu den Bauern, die uns wohlgesonnen waren. Alle, die noch arbeiten konnten, halfen in der Ernte und bei anderen Feldarbeiten.

Als wir das erste Mal die katholische Kirche zur Verfügung gestellt bekamen, war die Kirche brechend voll. Die Flüchtlinge kamen in Scharen aus allen Orten, um den Gottesdienst zu besuchen. Der evangelische Pfarrer aus Breslau hielt den Gottesdienst. Auch mein neugeborenes Kind wurde in diesem Gottesdienst getauft. Ein Berliner Opernsänger, auch Flüchtling, sang während der Taufe das Lied von Friedemann Bach:

Kein Hölmlein wächst auf Erden,
der Himmel hat’s betaut
und kann kein Blümlein werden,
die Sonne hat’s erschaut.

Wenn du auch tief beklommen
in Waldesnacht allein,
einst wird von Gott dir kommen
dein Tau und Sonnenschein.

Dann sprosst, was dir indessen
als Keim im Herzen lag,
so ist kein Ding vergessen,
ihm kommt ein Blütentag.

Gott legte uns eine Last auf, aber er half uns auch.

Nun erwarteten wir das Weihnachtsfest 1945, fern der Heimat. Wir Angestellten versuchten, den uns anvertrauten Menschen das Fest so schön wie möglich zu machen. Für jeden Heimbewohner organisierte ich eine Eintopf-Keramikschüssel und eine Keramiktasse, gefüllt mit Weihnachtsgebäck. Die Frauen bekamen dazu ein Unterhemd und die Männer ein Sporthemd. Die Weihnachtsgans und die berühmten schlesischen Mohnklöße fehlten auch nicht. Wir alle empfanden das Weihnachtsfest in unserer tiefsten Armut als das bewussteste unseres Lebens.

Besser ging es uns, als die Amerikaner kamen. Wir bekamen warme Wolldecken und so manche Lebensmittelspende, wie Käse, Trockenmilch, Eiscreme und Care-Pakete. Die Gutspächter mussten das Gutshaus räumen, damit unsere Leute eine bessere Unterkunft erhalten konnten.

Im Heim wurde sehr viel gesungen. Wir waren eine große Familie. Jetzt gewöhnten wir uns auch schon an den Gedanken, nicht mehr in unsere Heimat zurückkehren zu können. Dann kam mein Mann aus russischer Kriegsgefangenschaft. Ich holte ihn noch krank aus dem Marburger Lazarett.

Bald überlegten mein Mann und ich, wie wir das Leben der uns anvertrauten Heimbewohner verbessern könnten. Allmählich hatte sich in der amerikanischen Zone das politische Leben entwickelt. Parteien waren gegründet worden. Da ergriff mein Mann die Initiative, besuchte alle Parteien und bat um Mithilfe bei der Suche nach einer besseren Unterkunft für unser Heim. Es ergab sich plötzlich eine Gelegenheit. In Kronwinkel bei Landshut war eine Villa zu verkaufen.

Mein Mann und ich fuhren gleich mit einem vorläufigen Kaufvertrag in der Tasche nach Kronwinkel, wo sich die Villa befand, und streckten unsere Fühler aus. Es klappte, der Vertrag wurde unterschrieben.

Zu Hause hielten wir alles geheim, damit nichts zerredet wurde. Wir setzten uns gleich mit dem Dekanat in München in Verbindung und erhielten die Kaufgenehmigung. Es ging nun alles sehr schnell. Heimbewohner und Angestellte wussten immer noch nichts. Das Haus stand schon leer. Wir bestellten gleich die Handwerker. Betten und Matratzen wurden gekauft. Jeder Bewohner bekam einen Nachttisch und jedes Zimmer einen Kleiderschrank. Die Villa Kronwinkel war ein wunderschönes Haus mit Bädern, Zentralheizung und Parkettfußboden. Sie stand in einem herrlichen Park. Aber alle Leute konnten wir hier nicht unterbringen, so dass wir auf dem noch reichlich vorhandene Baugrund zwei Holzhaüser errichten mussten. Das Fundament für diese Haüser schütteten wir in Eigenarbeit. Die Angestellten und Heimbewohner, die bei der Einrichtung unseres neuen Heimes mithalfen, kamen nicht mehr nach Deutenkofen zurück, weil wir Sorge hatten, dass unser Vorhaben vielleicht noch im letzten Moment vereitelt werden könnte.

Dann kam der große Tag des Umzugs. In Deutenkofen gab es noch ein großes Feuer, denn alles, was nicht mitgenommen werden sollte, wurde verbrannt. Das Gepäck musste auf Ungeziefer durchgesehen werden. Immer noch wusste niemand, wohin die Reise ging. Lastwagen, Krankenwagen und Busse wurden bestellt. Mein Mann fuhr nach Deutenkofen und holte die Heimbewohner und das Personal. Im festlich geschmückten Haus erwartete ich unsere Leute mit einem Willkommensgruß. Ein kleiner Rodonkuchen schmückte jeden Nachttisch. Die Freude war groß. So viel Schönheit und Gemütlichkeit hatte niemand erwartet. Einigen kamen die Tränen. Es gab aber auch solche, die sich nicht so schnell umstellen konnten. Sie hatten sich in der langen Zeit des Provisoriums an ihre Margarinekartons gewöhnt. Als nun alle ihren Platz gefunden hatten, sangen wir mit dem Personal auf allen Stationen “Nun danket alle Gott”. Die Heimbewohner sangen kräftig mit.

Vom Konsistorium in München beauftragt, betreute uns dann die Diakonen-Anstalt Rummelsberg. Wir hatten zu allen ein sehr gutes Verhöltnis. Unser Haus wurde Mittelpunkt der Diaspora. Gottesdienste für die evangelischen Christen aus der Umgebung fanden bei uns statt. Bei festlichen Gelegenheiten wurde das Haus Anziehungspunkt für viele Menschen im weiten Umkreis. Wir begannen, uns schon etwas heimisch zu fühlen. Da erreichte uns eines Tages ein Brief des zuständigen Gesundheitsamtes. Die Zusammensetzung des Heimes entsprach nicht den Richtlinien. Es wurde angeordnet, dass die Blinden ins Blindenheim, die Taubstummen ins Taubstummenheim und die Geisteskranken in geschlossene Anstalten sollten. Da löste sich die Notgemeinschaft, die so vieles gemeinsam erduldet und getragen hatte, auf.

Mein Mann erhielt eine Berufung nach Hamburg, um dort ein Alten- und Pflegeheim zu übernehmen. Rummelsberg schickte einen Diakon als Hausvater für die restlichen Heimbewohner. Der neue Heimleiter blieb nicht lange, und so wurde unser schönes Kronwinkel aufgelöst. Ich persönlich nahm sehr schwer Abschied, denn wir alle hatten unsere Liebe und die Kräfte unseres Herzens eingesetzt, um die schrecklichen Auswirkungen des Krieges auf die uns anvertrauten Menschen etwas zu mildern.

Dieser Bericht soll Erinnerung und Mahnung sein. Wenn dadurch auch die Schreckensbilder und das Herzeleid wieder wach wurden, so kann der Bericht vielleicht für die, die ihn lesen, eine Hilfe zum Verständnis dieser furchtbaren Zeit sein und Mitgefühl wecken für das Schicksal der alten und kranken Menschen in den Wirren des Krieges. Selbst wir Jüngeren meinten, nicht mehr die Kraft aufbringen zu können, all das zu ertragen. Wir, die die schreckliche Zeit überlebten, haben nur einen Wunsch:

“NIE WIEDER KRIEG!”

Alle Frauen und Mütter der Welt möchte ich aufrufen, setzt Eure ganze Kraft für den Frieden ein, dass das Wettrüsten aufhört, die Mächtigen dieser Erde miteinander reden, um den Frieden auf Erden zu sichern.

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