Expulsion - Vertriebenen,  WW2

Die Flucht aus Ostpreußen- Elena Schlottau

Dieser Eintrag stammt von Elena Schlottau (*1991)
Ergebnisse eines Interviews mit Frau C. T.(*1937)
Die damals 7-jährige C. T. erzählt von der Flucht aus Wormditt im ehemaligen Ostpreußen.
Original Source (used under Fair Use Laws)

Das Leben in Ostpreußen kurz vor der Flucht
Ich bin damals in Wormditt aufgewachsen, im früheren Ostpreußen. Mein Vater wurde an der Front eingesetzt. Meine Geschwister und ich mussten bei meinen Tanten leben, weil unsere Mutter gestorben war. Einer meiner Brüder und ich sind bei Tante Anna aufgewachsen. Da sie in einer Metzgerei gearbeitet hatte, ist auch so manches Stück Fleisch, ohne dafür Lebensmittelmarken abgeben zu müssen, für uns abgefallen. In Erinnerung ist mir auch der große Weihnachtsbaum geblieben. Die Geschenke waren nur Kleinigkeiten. Es gab ja nichts mehr zu kaufen. Aber das Essen an den Weihnachtstagen war schon etwas Besonderes. Der Zeit entsprechend ging es uns verhöltnismäßig gut.

Der Angriff der Russen
Kritisch wurde die Lage zum ersten Mal, als russische Truppen im September 1944 die Memel überschritten und damit deutsches Gebiet erreichten.

Im November 1944 wurde bei einem Gegenangriff das besetzte Gebiet zurückerobert.
Die darauf folgenden Ereignisse in Goldap und Nemmersdorf übertrafen alle Vorstellungen.
Neben furchtbaren Verwüstungen waren Frauen lebend an Scheunentore genagelt, andere Frauen und Mädchen vielfach vergewaltigt, Greise zu Tode gemartert und 40 französische Kriegsgefangene erschlagen worden, so wurde uns berichtet.

Treu geblieben war uns erst einmal der Winter. Am Jahresbeginn pendelte das Thermometer immer um die 20 Grad unter Null.

In der Nacht vom 11. auf den 12 . Januar 1945 sollte das Inferno beginnen.
Die russische Offensive begann am Narew. Die eine Armee marschierte über die ostPreußische Ostgrenze in Richtung Königsberg. Eine andere Einheit stieß aus dem Brückenkopf Baranow am Narew, erst südlich von Ostpreußen Richtung Westen vor, um dann nach Norden Richtung Allenstein-Elbingen einzuschwenken. Ziel war es, den Rückzug nach Westen abzuschneiden, was auch gelang. Die hinterlassenen Spuren bei der noch in der Stadt befindlichen Zivilbevölkerung waren verheerend. Aus diesem Grunde war an eine Evakuierung zuerst überhaupt nicht und wenn dann viel zu spät gedacht worden.

Die Flucht
Als Allenstein gefallen war, verließen wir jeder mit einem Rucksack und einer Decke ausgerüstet unsere Stadt bei Schneetreiben und klirrender Kältein Richtung Mehlsack. Wir hofften nach dem Krieg wieder in unsere Heimatstadt zurückzukehren. In Mehlsack trafen wir noch einmal mit unserem Vater zusammen, der uns einen Platz auf einem Pferdefuhrwerk sicherte. Daraufhin zog der ganze Treck nach Norden.
Bald war uns klar, dass die Route über Elbing nicht mehr möglich war. Die Russen hatten den Ring geschlossen. Der einzige Ausweg der uns blieb, war der Weg über das zugefrorene Haff. Abends am ersten Tag hatten wir noch ein Mal die Möglichkeit, uns drinnen aufzuwärmen. Von unserer ganzen Verwandtschaft waren nur Frauen mit Kindern unterwegs. Die Männer waren irgendwo Soldat oder schon gefallen.
Unser neuer Weg war über das Haff in Richtung Pillau und dann mit dem Schiff weiter in Richtung Westen.
Als dann die Nachricht kam, dass auch Pillau nicht mehr in Frage kam und der Treck den kürzesten Weg zum Haff ansteuern sollte, ereigneten sich die ersten ergreifenden Szenen der Verzweiflung. Viele wollten nicht mehr weiterziehen, weil sie keinen Sinn mehr darin sahen. Doch wenn das Artilleriefeuer näher rückte oder Granaten bereits in unmittelbarer Nähe einschlugen, raffte sich doch alles wieder auf, um weiterzuziehen.
Die immer noch herrschende Kälteund das weiter anhaltende Schneetreiben zehrten an den Kräften. Es kam noch dazu, dass wir täglich Tote zu beklagen hatten.

Manch eine Mutter hat ihr totes Kind, das schon steif gefroren war, noch einige Tage mitgenommen, um es nicht am Straßenrand ablegen zu müssen. Dort lagen schon viele Tote.
Die Tage und Nächte zogen sich qualvoll dahin und unser Zeitgefühl ging verloren. Wegen der Angriffe durch Tiefflieger musste und wurde auch in der Nacht gefahren. Das hatte aber auch zur Folge, dass die Zugtiere überfordert wurden und starben. Aber es musste weiter gehen. Ein Stillstand hätte Tausende betroffen.

Der Weg über das Haff
Daraufhin kamen wir nun endlich an das zugefrorene Haff. Das Haff ist 100 km lang, 25 km breit und 5-10 m tief. Diese 25 km galt es nun zu überqueren, um auf die Nehrung zu gelangen. Die Eisstärke war ausreichend.
Gegen 5 Uhr morgens kam Bewegung in den vorderen Teil der Wagenschlange. Offiziere teilten uns mit, dass die Eisdecke wieder befahrbar sei, denn sie war von russischen Bombern beschädigt worden. Es gab aber noch Risse im Eis; deswegen mussten wir achtgeben. Rechts und links lagen noch die Leichen vom Vortag. Pferdekadaver, die erfroren waren oder den Gnadenschuss bekommen hatten und Tote in grausigen Stellungen.

Eine Frau, die neben einem Wagen ging, stürzte in eine Eisspalte und musste mit einer Stange herausgefischt werden.

Gegen Abend tauchten russische Flieger auf. Sie griffen den Treck weiter vorne an und wir hörten die Bomben und Maschinengewehre. Es gab Panik. Die Pferde gingen durch. Ein Wagen brach ins Eis ein, aber der Kutscher hatte rechtzeitig die Leinen durchgeschnitten. So konnten sich Mensch und Tier wieder aufs sichere Eis retten.

Für uns war es nun nur noch wichtig, den sicheren Boden zu erreichen. Auch ich machte mit dem eiskalten Wasser Erfahrung. Ich war in eine Spalte gefallen und klatschnass wieder herausgezogen worden. In Decken eingepackt, aber darunter noch die nassen Sachen an, ging der Marsch weiter. Weder zum Umziehen noch zum Trocknen gab es Zeit. Seitdem habe ich eine gewisse Scheu vor offenen Gewässern.
Bald hatten wir endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Die erste Pause war in einem mit Soldaten belegten Pferdestall.

Ich konnte endlich die steif gefrorene Kleidung wechseln.

Lange konnten wir uns jedoch nicht aufwärmen, weil wir noch ein Schiff in Gotenhafen erreichen wollten. Der Weg auf der Nehrung machte ein Weiterkommen schwierig, denn es war mehr ein Feldweg als eine Straße. Dort waren wir mit einem weiteren Treck aus Pillau zusammengestoßen, die auch auf ein Schiff kommen wollten.

Die Krankheiten nahmen zu und die Versorgung mit Lebensmitteln ab. Auch Futter für die Pferde war Mangelware. Die Folgen waren, dass am Straßenrand mehr und mehr tote Menschen und Tiere lagen.
Bald konnten wir unseren Weg auf ordentlichen Straßen fortsetzten. Unsere Hoffnung wuchs, der Umklammerung der Russen zu entkommen.

Doch in dieser Zeit war man vor Überraschungen nie sicher und wir mussten noch einen fürchterlichen Tieffliegerangriff überstehen.

Wir und die Menschen in unserer Umgebung kamen noch glimpflich davon. Weiter vorn gab es viele Tote zu beklagen. Am schlimmsten betroffen waren die Kinder. Sie sahen ihre Mütter sterben und mussten sie am Wegesrand zurücklassen. Die Hoffnung, dass wenigstens der Vater lebend aus dem Krieg zurückkommt, bestand kaum. Der weitere Weg vorbei an Danzig war nach wie vor anstrengend und beschwerlich. Unsere Kräfte ließen nach und wir hatten Hunger.

Gotenhafen lag schon viel näher als wir dachten. Wegen dem starken Schneefall konnten wir erst am Ortseingang erkennen, dass wir unser Ziel fast erreicht hatten.
Auf einem großen Platz mussten wir uns alle versammeln und wurden in eine Halle eingewiesen. Die Zustände waren alles andere als schön, aber wir freuten uns trotzdem, ein Dach über dem Kopf zu haben. Wie gut unter solchen Umständen eine warme Suppe schmeckt, ist gar nicht zu beschreiben.

Mit einem Schiff nach Schleswig-Holstein
Am nächsten Morgen machten wir uns alle auf den Weg zum Hafen. Alle Mittel und Tricks, die man einsetzen konnte, wurden angewandt, um möglichst früh auf ein Schiff zu kommen. Unsummen an Geld wurden geboten. Männer hatten sich als Frauen verkleidet oder Babys geliehen, um bevorzugt abgefertigt zu werden.
Für Soldaten und wehrfähige Männer war es verboten, das Kriegsgebiet zu verlassen.
Es konnten Stunden vergangen sein, als die Einschiffung gestoppt wurde und das Schiff den Hafen verließ. Auf dem Schiff angekommen, mussten wir in die Laderäume.

Gut in Erinnerung ist mir geblieben, dass sich Tante Anna sehr darüber aufgeregt hat, dass wir mit so einem alten Kahn fahren mussten und nicht auf die schöne Gustloff gekommen sind.
Aber ein Tag später, als wir von dem Untergang der Gustloff erfuhren, waren wir froh, dass wir nicht mit ihr gefahren sind! Wir kamen wohlbehalten in Swinemünde an und gingen von Bord. Dort mussten wir in ein Lager. Unser nächstes Ziel war Schleswig-Holstein, weil in der Zwischenzeit der Russe auch die Weichsel überschritten hatte und bereits an der Oder stand.

Weiter geht es mit der Bahn
Wir konnten mit der Bahn weiterfahren. Glücklicherweise durften wir in einem Personenwagen und nicht wie sonst in einem Güterwagen mitfahren.

Die ganze Flucht war bisher ein Wettlauf mit der Zeit und den angreifenden Russen. Die verlässlichsten Auskünfte erhielten wir von den nachfolgenden Flüchtlingskolonnen.
Die Abfahrt verzögerte sich bis in die Abendstunden.
In der vergangenen Zeit verfolgten uns die größten Gefahren auf dem Landweg. Jetzt waren wir auch in den Einsatzbereich der westlichen Angreifer gelangt.

Die Transporte waren häufig das Ziel von Tieffliegern. An hellen und klaren Tagen war die Gefahr von Tieffliegerangriffen viel größer als in der Nacht oder an trüben Tagen. Also fuhren wir so gut es ging Richtung Greifswald und Richtung Rostock.

Aber unter all den Unannehmlichkeiten, Strapazen und Hunger waren alle bestrebt, Ruhe zu bewahren. Wir wollten eine sichere Bleibe bekommen und vor allem überleben.
Was uns gut tat war, dass wir doch ständig ein Dach über dem Kopf hatten und ab und zu die Wagen beheizt wurden. Betrachtet man rückblickend die Flucht, dann stellt man ganz schnell fest, dass mit zunehmenden Schwierigkeiten und Opfern, die Bescheidenheit immer mehr zunahm. Über Wismar und Lübeck erreichten wir Itzehoe. Hier endete unsere Fahrt. Es wurde uns mitgeteilt, dass wir nun privat untergebracht werden. Trotz der Freude wieder normal leben zu können, kam Trauer und Bestürzung auf. Eine nie vorher erlebte Gemeinschaft wurde plötzlich zerrissen.

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ManyRoads Creator, Professional Genealogist, Family Historian, ManyRoads Podcast co-host, Old Guy and most importantly 'opa'